Ein „richtiger“ Mann kann vieles sein, auch fürsorglich und gesund
Die Coronakrise hat auch die Geschlechterdebatten neu aufleben lassen. Mit „Die Frauen verlieren ihre Würde“ war ein Gastbeitrag der Soziologin Jutta Allmendinger überschrieben, der am 12. Mai 2020 in der Wochenzeitschrift „Die Zeit“ erschienen ist ( Zugriff 3/2021). Sie kommt darin zu dem Schluss: „Wir erleben eine entsetzliche Retraditionalisierung. Die Aufgabenverteilung zwischen Männern und Frauen ist wie in alten Zeiten, eine Rolle zurück. Sie ist entsetzlich, da Frauen heute ganz andere Vorstellungen von einem guten Leben haben als früher“ (ebd.).
Doch nicht nur Frauen, sondern auch viele (junge) Männer insbesondere Väter, haben heute ganz andere Vorstellungen von einem guten Leben als noch ihre Väter und Großväter. Das traditionelle Rollenbild vom Mann als „Familienvater“, d. h. Alleinernährer und Oberhaupt der Familie, ist im Wandel. Das „gute Leben“ schließt für heutige Männer neben Erfolg im Beruf mehr als zuvor auch die Sorge um die eigenen Kinder, die Familie sowie um sich selbst und die eigene Gesundheit mit ein.
Traditionelle Bilder und optimistische Trugschlüsse als Gesundheitsfalle für Männer
Nicht nur die Verteilung von Sorgearbeit in Familien, sondern auch Gesundheitsvorstellungen und individuelles Gesundheitsverhalten werden von sozialen Rollenerwartungen und kulturellen Stereotypen geprägt. Das zeigt sich bereits in unserer Sprache, die von Redewendungen durchzogen ist, die auf männliche Stärke und Unverwundbarkeit verweisen: Ein Indianer kennt keinen Schmerz
- Ein Mann, ein Wort
- Seinen Mann stehen
- Selbst ist der Mann
- Kein richtiger Mann sein…
Solche Rollenerwartungen und kulturellen Stereotype haben unmittelbare Auswirkungen auf das (individuelle) Gesundheitsverhalten und die Gesundheitsoutcomes. Drei aktuelle Beispiele, die das verdeutlichen, sind etwa Boris Johnson, Donald Trump oder Jair Bolsonaro. Im Gegensatz zu weiblichen Regierungschefinnen wie Angela Merkel, Jacinda Ardern oder Sanna Marin verkörperten diese Männer für alle Öffentlichkeit sichtbar einen alten, stereotypen Umgang mit der Pandemie, nämlich eine nachhaltige Ignoranz der Risiken durch das Corona-Virus, bis sie sich selbst infizierten. Boris Johnson hat in Krankenhäusern noch maskenlos Hände geschüttelt und sich dabei fotografieren lassen, als halb Europa bereits Alltagsmasken getragen hat. Diese Inszenierung von Männlichkeit hängt auch mit einem sogenannten „optimistischen Trugschluss“ zusammen, der das Überschätzen der eigenen Widerstandskräfte bei gleichzeitigem Ausblenden von statistischen Wahrscheinlichkeiten bedeutet.
Geprägt sind solche Vorstellungen von Männlichkeit über Jahrzehnte tatsächlich auch von öffentlichen Persönlichkeiten sowie der Film- und Werbebranche. Denkt man beispielsweise an Politiker wie Helmut Schmidt oder die Filmfigur James Bond (über verschiedene Darsteller hinweg), dann waren sie sicher lange Zeit vielleicht auch unbewusst für viele Männer Vorbilder, die etwa durch das Rauchen, das Trinken von hochprozentigem Alkohol und ein bestimmtes Auftreten vermeintlich männlicher, „cooler“ und „lässiger“ wirkten. Man(n) blickte dann auch eher auf solche Vorbilder als auf die Todesursachenstatistik des Robert-Koch-Instituts, die eine signifikant erhöhte Todesrate an Lungenkrebs oder auch alkoholassoziierten Erkrankungen bei Raucher*innen und Trinker*innen aufweist.
Doch diese Stereotype verlieren langsam ihre Wirkmächtigkeit. Immer mehr Männer „achten“ auf sich und wünschen sich eine gleichberechtigte Partnerschaft und Sorgearbeit für ihre Kinder. Die Weltgesundheitsorganisation hat in ihrer ersten „Strategie zur Förderung der Gesundheit und des Wohlbefindens von Männern in der Europäischen Region“ 2018 (Zugriff 03/2021) klar benannt, dass effektive männergerechte Gesundheitsförderung auf Stärken und positiven Bildern von Männern aufbauen sollte. Angebote der Gesundheitsversorgung und -förderung sollten daher auf die Verwendung von Stereotypen verzichten, die zu einem Fortbestehen von ungleichen und schädlichen Rollenbildern und Verhaltensweisen beitragen; und stattdessen unterstützende Rahmenbedingungen zu entwickeln, die eine positive, ganzheitliche Gestaltung der Rollen von Männern als Väter, Partner, Mitarbeiter und auch als Pflegende fördern. (vgl. hierzu auch WHO, Zugriff 03/2021).
Mann sein, Vater sein, ist viel mehr als alten Rollenklischees hinterherzuhecheln
Tradierte Klischees haben eines gemeinsam: Sie zeichnen ein Bild vom vermeintlich „starken Geschlecht“, das viele Jungen oder Männer kaum erfüllen können, ohne eigene Bedürfnisse und Gefühle zu verleugnen. Tatsächlich zeigen internationale Studien, dass Männer deutlich häufiger Suizid begehen als Frauen, aber sehr viel seltener professionelle Hilfen beispielsweise bei Depressionen in Anspruch nehmen – eine Diskrepanz, die auch mit Stereotypen vom „starken Mann“, der nicht über seine Sorgen und Probleme spricht, in Verbindung gebracht wird. Sich seiner Gefühle, Bedürfnisse und auch Lebensvorstellungen bewusst zu werden und darüber zu reden ist ein wichtiger erster Schritt zu mehr Lebensqualität und -zufriedenheit. Eine sehr erfolgreiche Männergesundheits-Kampagne in Neuseeland heißt „#MenStartTalking“, durch die genau dieses Darüber-Reden unter Männern normalisiert werden soll. Gerade Väter, die aktiv ihre Vaterschaft leben, können dabei auch mal überfordert, ausgebrannt oder krank sein. Sich dann Hilfe zu organisieren, um wieder klarzukommen und für seine Kinder als Vater da sein zu können, ist ein Beispiel für echte Stärke. Männer, die anfangen über sich zu reden und achtsam mit sich und anderen umgehen, sind zugleich viel bessere Vorbilder für ihre Söhne und Töchter als rauchende Cowboys oder um sich schießende Geheimagenten.
Zur Person
Thomas Altgeld ist Psychologe und Geschäftsführer der Landesvereinigung für Gesundheit und Akademie für Sozialmedizin Niedersachsen. Seit 2019 ist er Vorstandschef des Bundesforums Männer – einem Interessenverband für Jungen, Männer und Väter in Deutschland.
Vater-Kind-Kuren und Väterkuren
Die Möglichkeit über sich zu reden und Achtsamkeit mit sich und anderen zu praktizieren, erhält man auch in einer Vater-Kind- oder Väterkur im Müttergenesungswerk. Das Prinzip des gendersensiblen Ansatzes in den Vorsorge- und Rehabilitationsmaßnahmen des Müttergenesungswerks greift hier. Der Erfolg der Kurmaßnahmen basiert darauf, dass Väter in Gruppen unter sich sind, wobei Rollenbilder und -erwartungen von Vätern berücksichtigt werden und individuell auf deren Bedürfnisse eingegangen werden kann. Sie wollen mehr darüber erfahren?